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Zehn Jahre später – Ein folgenloser Appell | Oder: Die heilige Ignoranz

Lorscher Abt 2016

Artikel in der aktuellen Ausgabe des Magazins ›FOLKER‹ – Gastspiel im Theater Sapperlot am SO 06.11.16 // WENZEL SOLO

Es ist wirklich schon zehn Jahre her! (Ich spare mir das „Ach-wie-die-Zeit-vergeht!“). Das Telefon klingelte, Michael Kleff fragte, ob wir nicht für das Liedermachertreffen des ZDF in Tutzingen einen Text vorbereiten sollten, um auf die zunehmende Ausblendung des deutschsprachigen Liedes in den Medien aufmerksam zu machen. Ich fragte, welches Treffen er meine? „Bist du nicht eingeladen?“, erwiderte er nach kurzer Pause. Nein, ich hatte es nicht auf die offizielle Liste der Sänger geschafft. Wende und Anschluss der DDR an die BRD waren sechzehn Jahre her, und nach der anfänglichen Euphorie herrschte wieder der Alltag. Die alte Bundesrepublik konnte recht gut ohne uns existieren. Er: „Warum bist du nicht eingeladen?“ – Ich: „Das ist die heilige Ignoranz!“

 Text Wenzel

Man könnte die Unterschiede der Sänger aus Ost und West aufzählen, um herauszubekommen, welches Phänomen man eigentlich ignorieren wollte, aber so viel Konzept herrscht beim Ignorieren nie vor und ich muss gerechterweise anmerken, dass sich viele Westkollegen sehr dafür interessierten, was wir veranstaltet haben hinter der Mauer. Aber da es keine offizielle Kulturpolitik gibt, denn der Föderalismus schützt auch vor Konzeptionen, sieht man das Öffentliche, also Fernsehen oder Zeitungen immer noch als Gradmesser für Wertigkeiten. Manchmal erwächst die Ignoranz eben auch aus Faulheit, Selbstverliebtheit oder Provinzialismus. Eine deutsche Tugend, die in den letzten Jahren an Beliebtheit zugenommen hat. Michael, geschult im Streiten mit den Windmühlen des Schwachsinns, hatte gelernt, um Positionen und Rechte zu kämpfen. Kurzum, ich kam auf die heilige Liste und fuhr in die bajuwarische Idylle an den Starnberger See. Da waren wir alle plötzlich beisammen, die wir uns kannten. Die einen freuten sich auf Austausch, Gespräche, andere witterten Chancen für ihre Karriere. Eben wie überall in diesen Landen. 

Als ich später die Sendung sah und bei meinem Erscheinen im Bild stets der Untertitel „Wenzel, Liedermacher (Ost)“ eingeblendet wurde, schrieb ich an das ZDF, was dieses „Ost“ bedeute? Ob ich kein richtiger Liedermacher wäre? Denn bei der Bundekanzlerin schriebe man ja auch nicht „Merkel, Bundeskanzlerin (Ost)“. Eine Antwort blieb aus. 

Wir waren zusammengekommen und hatten einen Text vorbereitet. Wir liefen in der Kantine von Tisch zu Tisch und verteilten wie Werber der Zeugen Jehovas unser Papier. Es gab wohlwollendes Lächeln oder gespielte Aufmerksamkeit, aber auch echtes Interesse. Ehrlich gesagt, war ich ein wenig der Resolutionen müde, denn in den Jahren 1989/90 hatten wir von dieser Art Gestaltung zur Genüge Gebrauch gemacht. Aber ich ließ mich überreden, denn wir spürten deutlich, dass sich die kulturelle Landschaft in den nächsten Jahren rigoros verändern würde. Es haben fast alle unterschrieben. Und dann? Haben wir Änderung erreichen können? Nein, es hat sich nichts geändert. Im Gegenteil, die Sendereformen („Reform“ – das Zauberwort für alle Sauereien!) walzten sich von Redaktion zu Redaktion, es setzte eine nie dagewesene Hinwendung zum Entertainment ein, stets mit dem Argument, dass es die Leute eben so wollen. Immer mehr verschwand das Lied aus der medialen Öffentlichkeit, obwohl die Sänger große Säle füllen. Auch dieser Umstand wird ignoriert. Irgendein Redakteur weiß eben genauer, was in ist und was out. 

Was hat dieser Tutzinger Appell bewirkt, muss man sich nun fragen nach zehn Jahren? – Nichts. Hätte man nicht auf ihn verzichten können? – Nein! Nicht nur der Umstand geistiger Hygiene adelt das Unternehmen, auch der augenblickliche Zustand dieses Landes zwischen AfD, Pegida, NSU und grölendem Mob vor Flüchtlingsheimen, den Kampfschreien gegen eine „Lügenpresse“ – all dies zeigt, wie sehr ein Aktivieren kultureller Identitäten nötig ist. Bei diesem Appell ging es nicht um Quoten (das ist die beliebte Form, sich inhaltlichen Diskursen zu entziehen, man überträgt das Problem dem „Gesetz der großen Zahlen“), es ging nicht um Pfründe, es ging um das Beharren auf authentische Kultur in der sich monokulturell ausrichtenden Welt. Es ist üblich geworden, beim Aufscheinen von Krisen auszurufen: Wo bleiben die Intellektuellen? Warum meldet sich keiner von ihnen zu Wort? Diese Aufgeregten vertuschen nur Ignoranz, die an den Stellen vorherrschte, wo noch Änderung möglich gewesen wäre. 

Der Umgang mit diesem Appell ist aufschlussreicher als der Appell selbst, denn es beweist, wie wenig politisch Verantwortliche auf Austausch aus sind. Es gehört zur Norm, nicht auf das zu hören, was gerade nicht ins Mainstreambild passt. Es gelten stets jene als Intellektuelle, die in die Protestnorm passen. Heute zum Beispiel Peter Sloterdijk oder…  Ach, schweigen wir darüber. Ja, es geht um kulturelle Identität, denn nur, wenn wir uns in der eigenen Kultur aufgehoben fühlen, uns um sie mühen, schützt dies vor Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Dass sich heute nationale Heilsverkünder auf deutsche Kultur berufen, zeigt auf traurige Weise die Fehler der letzten Jahre. Unser Appell ist ignoriert worden. Nicht anders als die Realität dieses Landes ignoriert wurde. Jetzt kommt die Rechnung, und der Mob treibt die Regierenden grölend vor sich her. 

Ignoranz verhindert Dialog. Ignoranz besteht darauf, die eigene Meinung, den eigenen Monolog zu behaupten. Ignoranz ist Ausweichen vor Widersprüchen, Schutzschicht des Egoismus. „Kulturelle Identität“ – das klingt konservativ, unmodern, altbacken. Aber es geht darum, ein Werkzeug zur Hand zu haben, Widersprüchen mit historischem Atem begegnen zu können. Vernichtung dieser Identität ist zugleich Vernichtung der Fähigkeit zu Widerstand. Es ist zugleich Vernichtung von Geschichte. Die Katastrophen tauchen in unseren Ländern stets plötzlich wie aus dem Nichts auf, wie Naturereignisse. Wenn die Geschichte entmachtet wird, wirken die schrecklichen Begebenheiten nicht wie von Menschen gemacht und erlangen so eine Unabänderlichkeit, alternativlos, wie es das Modewort beschreibt. Der Umgang mit diesem Appell ist ein Beispiel für ein Problem dieser Gesellschat: Ignoranz.

Artikel von Wenzel in der aktuellen Ausgabe des Magazins ›FOLKER‹ (hier kann auch der Tutzinger Appell zum Umgang mit dem Lied in Deutschland nachgelesen werden)

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